Rezension – „In Samhains Schatten“
Gemäß den keltischen Mythen ist die Anderswelt ein Ort, den sich die Seelen der Verstorbenen mit allerlei unheimlichen Wesen teilen. An manchen Plätzen, speziell in den Geisternächten, ist der Übergang zwischen den Welten fließend. „In Samhains Schatten“ ist eine Sammlung unheimlicher Geschichten, die sich dem Mythos der Anderswelt angenommen hat.
Nachzehrer, Bestien, geisterhafte Erscheinungen, Untote und Dämonen sind nur einige der Geschöpfe, die in den neunzehn Geschichten auftauchen. Manche Autoren haben sich merklich intensiv mit den Sagen und der Folklore beschäftigt, andere gingen das Thema freier an und erschufen ganz eigene Wesen.
Ich möchte positiv hervorheben, dass die Sammlung sehr abwechslungsreich, schaurig aber unblutig und im Gesamten gutklassig ausgefallen ist. Echte Überflieger gibt es keine, dafür aber auch keine wirklichen Ausfälle. Für mein Empfinden pendeln alle Beiträge zwischen drei und vier Sternen. Da es dann doch mehr Dreieinhalb- und Vier-Sterne-Geschichten sind, vergebe ich für die Sammlung als Gesamtwerk vier Sterne.
Fazit: Eine lesenswerte Sammlung unheimlicher Geschichten.
Story für Story
„Im Bann der Sehnsucht“ (Nicole Grom)
Sprachlich stark, atmosphärisch und intensiv erzählt. Ein melancholisch-schauriger Einstieg in die Sammlung. Infos zu dieser speziellen Vater-Tochter-Geschichte zu geben, würde die Überraschung ruinieren, daher sei nur verraten, dass der Mythos eines bekannten Schattenwesens aufgegriffen wird.
„Die Priesterin des Schwarzen Mondes“ (Lisa-Katharina Hensel)
Die Priesterin Viviana soll für einen machthungrigen König Krieger erwecken, die dem Land über den Tod hinaus Treue schworen. – Auch die zweite Geschichte ist fesselnd erzählt und begeistert mit einer intensiven, dunkelschönen Atmosphäre.
„Nos Galan Gaeaf“ (Isabell Hemmrich)
1965 in einem kleinen, walisischen Dorf. In der Nacht von Nos Galan Gaeaf (Geisternacht) trifft der junge Grigor auf Yr Hwch Ddu Gwta, der meistgefürchtesten Kreatur der Anderswelt. – Die Geschichte lässt mich zwiespältig zurück. Die Autorin hat merklich gut recherchiert und einen schaurigen Plot entworfen, doch stellenweise liest sich die Geschichte mit ihren vielen Erklärungen und Ausführungen wie eine Abhandlung über Folklore. Insgesamt zuviel Stoff für eine sechzehnseitige Kurzgeschichte.
„666 Jahre“ (Lea Baumgart)
Namtaru darf, wie alle Dämonen, nur alle 666 Jahre die Welt der Sterblichen heimsuchen. Doch Halloween 2020 läuft nicht so ab, wie er es sich erhofft hatte. – Nach drei ernsten Geschichten, feuert die Autorin ein bissiges Gagfeuerwerk ab, das mit rabenschwarzem Humor auch das Corona Jahr 2020 reflektiert. Nicht nur wir haben darunter zu leiden …
„Nemeton“ (Daniela Geßlein)
In der Nacht von Halloween beobachtet der Archäologe Bernhard, dass ein Feuer in der Ausgrabungsstätte wütet. – Handwerklich solide, aber alles in dieser Geschichte, inkl. dem vorhersehbaren „schockierenden“ Ende, ist ein alter Hut.
„Sehnsucht“ (Robert Beringar)
Rose McFadden sehnt sich nach dem Jenseits, doch Selbstmord kommt nicht in Frage. In der Nacht von Samhain bietet sich ihr eine unerwartete Gelegenheit. – Be careful what you wish for … abgesehen von dem Umstand, dass der Autor mit Rose wohl unbedingt das Blöd-Zeitung-Klischeebild von Anhängern der Gothic Szene untermauern wollte, eine sprachlich und atmosphärisch gelungene Geschichte mit grausigem Ausgang.
„Der Zahnclown“ (Askin-Hayat Dogan)
Ein als Clown verkleideter Kinderarzt stattet einen Hausbesuch ab. – Wieder eine dieser Geschichten, bei der jeder Info das Lesevergnügen trüben würde. Eine rabenschwarze Geschichte mit überraschendem Ende.
„Die Nacht der bösen Geister“ (Nadine Buch)
Ein paar Freundinnen verbringen die Halloween-Nacht in einer Hütte im Wald, als plötzlich nächtlicher Besuch auftaucht. – Die Geschichte der Herausgeberin Nadine Buch ist spannend geschrieben, handwerklich solide, wenn auch etwas generisch im Ausklang.
„Rodolfo und Julia“ (Kaia Rose)
Nur an Samhain ist es Julia möglich, den Vampir Rodolfo zu sehen. – Eine Geschichte, die gekonnt mit Erwartungen spielt und überraschend endet.
„Nur eine Nacht im Jahr“ (Jennifer Albrecht)
Seit ihrem Tod verweilen Lucia und Heather im schwarzen Nichts. Nur an Samhain ist ihnen eine Nacht in der Welt der Sterblichen vergönnt. – Das Szenario der Autorin lässt ob des Schicksals Verstorbener schaudern. Eine Geschichte, die nicht mit einem spektakulären Plot, sondern mit ihrer Idee und Atmosphäre punktet.
„Sekundenkleber“ (Agga Kastell)
Daniel weilt bereits seit geraumer Zeit als Skelett in der Anderswelt, wird zu seinem Leidwesen jedoch nicht in die Gesellschaft der Nichtexistenzen eingeführt. Trotz des Verbots schleicht er sich in der Halloween-Nacht außer Haus. – Eine amüsante Geschichte, die mit ihrem schrägen Humor an Tim-Burton-Filme (Nightmare before Christmas, Corpse Bride) erinnert. Flott geschrieben, sehr kurzweilig.
„Der Kürbisgeist“ (Verena Jung)
Der Geist eines vor über 1000 Jahren verstorbenen muss zur Strafe an jedem Samhain in die Welt der Sterblichen und den Nachkommen der Familie, der er einst Böses angetan hat, helfen. – Eine ebenso originelle wie amüsante Geschichte, die dank der launigen Erzählperspektive eines Geistes, der in einem Minikürbis unfreiwillig als Halloween-Laterne herhalten muss, begeistert.
„Der Hexenfresser von Lemas“ (Iva Moor)
1698. Nira wird der Hexerei für schuldig befunden und verbrannt. Sie erwacht an einem seltsamen Ort, an dem sie dem mysteriösen Cinn begegnet. – Eine schöne Idee, fantasievoll ausgearbeitet, sprachlich stark, aber insgesamt liest sich die „Geschichte“ eher wie eine Szene aus einem Roman. Für eine eigenständige Kurzgeschichte passiert zu wenig.
„Das Gebot“ (Christian Heß)
Eine ungewöhnliche Geschichte, die sich um den Verlust eines geliebten Menschen dreht. Fantasievoll, melancholisch und sprachlich sehr lyrisch gehalten. Eine der besten Geschichten der Sammlung.
„Komm mit uns“ (Lili Werner)
Halloween. Eine Bande kindlicher Clowns bereitet beim Süßigkeiten-Sammeln Unbehagen. – Eine stilistisch interessante Geschichte, morbide geschrieben und mit einem Ende, das zwar zu erahnen war, aber nicht minder gruselig wirkt. Atmosphärisch stark.
„Der liegende Hans“ (Agnes Sint)
Alexandra verlässt angeduselt eine Halloweenparty und verirrt sich im Wald, ehe sie beim „liegenden Hans“, einem Steinfelsen auf einer Lichtung, auf seltsame Gesellschaft trifft. – Eine Geschichte, die weniger durch ihren Plot, als vielmehr durch Atmosphäre und eine nette Schlusspointe überzeugt.
„Süßes oder Glutenfreies“ (Sebastian Wotschke)
Der Titel lässt bereits erahnen, dass die Geschichte zu den Amüsanteren der Sammlung gehört, gleichwohl Sebastian Wotschke auf rabenschwarzen Humor setzt. Nur so viel: Ein gelungenes, weil sehr überraschendes Ende.
„Inferno“ (Martina Dinkel)
Der einzige Nachteil dieser Geschichte ist ihre Kürze. Martina Dinkel erschuf eine faszinierende Zwischenwelt, die Geschichte punktet gleichermaßen mit Humor und Gefühl. Da verzeiht man auch gerne die nicht wirklich überraschende Schlusspointe.
„Nachttod in der Stadt“ (Daniel Weber)
Der namenlose Erzähler langweilt sich in einer Kneipe, ehe unvermittelt eine rothaarige Schönheit für Abwechslung sorgt. – Eine handwerklich solide Geschichte, die leider sehr generisch und vorhersehbar geraten ist.
Buchdaten
Klappentext
Wenn Samhains Schatten beginnen, sich auszubreiten, gewähren sie einen Blick auf das verborgene Reich der Geister und Dämonen. Während die düsterste aller Nächte ihr dunkles Tuch über die Lande legt und die Pforten der Anderswelt sich lautlos öffnen, dringt das Flüstern des Jenseits in unsere Seelen und lässt uns Erschaudern.
Die Zeit von Halloween bricht an …
Herausgekommen ist eine Auswahl von neunzehn schaurigen, neblig-kühlen sowie die Düsternis erhellenden Geschichten.
Erschienen im Arcanum Fantasy Verlag, TB, 292 Seiten, 13,00 €, ISBN: 978-3-939139-23-2