Rezension „Am Anfang war das Bild“

Rezension „Am Anfang war das Bild“

Die Keimzelle einer jeden Geschichte sind Gedanken, die sich als Bilder vor den geistigen Augen der Verfasser:innen manifestieren. Für die Sammlung „Am Anfang war das Bild“ nahm das Herausgeber-Trio, bestehend aus der Autorin Aiki Mira und den Grafikern Ulli Bendick und Mario Franke, den Autor:innen diese Genesis vorweg: In einer Ausschreibung wurden Geschichten zu den Werken von Bendick und Franke gesucht (Auswahl: Online-Ordner). Die gewählten Beiträge erhielten im Anschluss eine zusätzliche Illustration. Das Experiment ist geglückt: Mit „Am Anfang war das Bild“ liegt eine ungewöhnliche und sehr gelungene Sammlung SF-Kurzprosa und dazu passenden Illustrationen/Bildcollagen als literarisch-grafisches Gesamtkunstwerk vor.

In Stimmung, Stilistik, Sub-Genre – in so ziemlich allem – unterscheiden sich die 18 Geschichten stark voneinander. Die Leserschaft begleitet ein Geschwisterpaar in der Einsamkeit einer postatomaren Schreckenszeit, folgt einem Liebespaar nach Ganymed, trifft Verstorbene im Cyberspace, nimmt auf einer Safari auf verwilderte Menschen teil, wird Zeuge einer biologischen Transformation oder begegnet Gevatter Tod beim Schreiben seiner Memoiren. Near Future / Future Fiction, Climate Fiction, Dystopie, Space Opera, Hard SF, Cyberpunk, Steampunk, Phantastik – das komplette Spektrum des Genre, teils nur noch im Setting, wird geboten. Es ist nur logisch, dass bei dieser Vielfalt nicht jede Geschichte den persönlichen Geschmack treffen kann, doch allen Beiträgen merkt man an, dass die Verfasser:innen im Schreiben versiert sind. Die handwerkliche Güte der Texte ist auf einem durchgängig hohen Niveau.

Die Anthologie selbst präsentiert sich, typisch für den Hirnkost Verlag, als Schmuckstück von Buch: Robustes Hardcover mit Lesebändchen, Umlaufcover, großzügiges Format, dickes Papier. Die 36 Illustrationen/Bildcollagen – natürlich im Farbdruck – kommen bestens zur Geltung.

Einige Geschichten näher vorgestellt

„Das Licht“ (Uwe Neuhold): Es ist gelungen, verschwundene Menschen in ihrem Zustand zur einem Zeitpunkt der Vergangenheit in der Gegenwart zu rekonstruieren – Ich möchte nicht so tun, als verstünde ich viel von Physik im Allgemeinen und Quantenmechanik im Speziellen. Die Idee, das Zeitreise-Thema und seine Paradoxa auf dieser Ebene anzugehen – Rekonstruktion eines vergangenen Zustands – fand ich hingegen faszinierend und ungewöhnlich. Die Spannungskurve der in Berichtform gehaltenen Geschichte steigert sich bis zum Finale konstant.

„Unser stilles Dorf“ (Isabell Hemmrich) – In einer Zeit nach einer atomaren Appokalypse. Das ruhige Leben von zwei Schwestern wird durch das Erscheinen eines nackten, seltsamen Mannes erschüttert – Von Isabell Hemmrich habe ich bereits einige Geschichten gelesen. Auch in dieser gelingt es der Autorin vorzüglich, das Nervenkostüm ihrer Leserschaft zu strapazieren und mit einzelnen, schonungslosen Sätzen für Gänsehautschauer zu sorgen. Vom Plot selbst eher wenig spektakulär, zeichnet sich „Unser stilles Dorf“ durch den gekonnten Einsatz von Sprache und einer beklemmenden Atmosphäre aus.

„Sterben und sterben lassen auf einem einstmals blauen Planeten“ (Christian Endres) – Gevatter Tod schreibt auf der entvölkerten Erde seine Memoiren, als er unerwartet Besuch von einer Astronautin vom Mars erhält. – Im Buch folgt auf die längste („Unster stilles Dorf“) mit Christian Endres‘ Beitrag eine kurze Geschichte. Wie an der Inhaltsbeschreibung zu erahnen, ist diese Geschichte eher der Phantastik denn der SF zuzurechnen und besticht durch gekonnte Dialogführung, Endres‘ gefällige Schreibe und eine gelungene Pointe.

„Der Erleger“ (Marco Rauch) – Richard, als einer von wenigen zivilisierten Vertretern der Menschheit, führt ein Alienpaar bei einer Safari auf wild lebende Menschen – Nach meiner Ansicht die stärkste Geschichte der Sammlung. Es ist die nüchterne, wertneutrale Darstellung in der strukturell und sprachlich gelungenen Geschichte, welche die Natur unserer Spezies schmerzhaft offenlegt. Die Charakterisierung des Safari-Führers Richard und der außerirdischen Rasse ist sehr gelungen. Es macht nicht unbedingt „Spaß“, diese Geschichte zu lesen, aber vermutlich wird es dieser Beitrag der Sammlung sein, der am meisten nachhallt.

„Bethlehem“ (Achim Stößer): In einem Episodenführer, zzgl. Hintergrundinformationen, wird die 13 Episoden umfassende Serie über die Geburt und das Leben eines Messias erzählt – In ihrer Darbietung ist „Bethlehem“ sicher der ungewöhnlichste Beitrag der Sammlung. Die Idee, die christliche Mythologie mithilfe außerirdischen Besuchs zu erklären, ist zwar nicht gerade neu, doch Stößers „Bethlehem“ hat einige fantasievolle Einfälle zu bieten. Der Humor der fiktiven Making-of-Anteile ist mal mehr („Kirks Rock“ als Drehort), mal weniger (Schauspieler: „Khal Momoa“) gelungen. Ein Lob verdienen hingegen die historisch korrigierenden Anmerkungen, die in anderen … Adaptionen dieses Mythos verbrochen sind.

„Ganymed“ (Karin Leroch) – Eine (glücklicherweise) wenig kitschig erzählte, ungewöhnliche Romanze, die mit einigen fantasievollen Bildern für das Kopfkino aufwartet. Gerade weil das Gros der Geschichten in dieser Sammlung eher düsterer Natur ist, besticht dieser Beitrag mit einer gelungenen Wendung und einem wirklich schönen Ausklang.

„Utopie27“ (Aiki Mira) – Zum Schluss der Sammlung gibt sich die Herausgeberin mit einer düsteren Cyberpunk-Geschichte die Ehre. Wie bei manch anderer Geschichte dieser Sammlung begeistert weniger der Plot (inkl. dem in zwei Deutungsrichtungen offenen Ende), als vielmehr die handwerkliche Güte. Aiki Mira gelingt es mit wenigen Worten, Atmosphäre zu schaffen, übt dezente Gesellschaftskritik und zaubert mit manchen Sätzen eindrucksvolle – wenn auch nicht immer appetitliche – Bilder fürs Kopfkino.

Fazit:

„Am Anfang war das Bild“ ist eine gelungene Storysammlung, die mit ihren zahlreichen Illustrationen und inhaltlicher Abwechslung als literarisch-grafisches Gesamtkunstwerk begeistert.

Buchdaten und weitere Informationen

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