Rezension – „1984“
Es gibt Bücher, die sind gut. Es gibt Bücher, die sind fantastisch. Und es gibt Bücher, die einen nie los lassen. Für mich ist eines der Bücher aus der letzten Kategorie „1984“, das in diesem Jahr seinen siebzigsten „Geburtstag“ begeht.
George Orwell verfasste seinen Jahrhundertroman 1948. Wie viele ältere Werke hat „1984“ ein bisschen Patina angesetzt, aber bedauerlicherweise seine düstere Vision nicht eingebüßt. Bedenkt man die heutigen technischen Möglichkeiten, die zu Lebzeiten von Orwell noch Science-Fiction waren, kommt man nicht umhin, zu vermuten, ob der Autor sich nicht einfach nur im Jahr seiner Dystopie geirrt hat.
Worum geht’s?
Wir befinden uns im fiktiven Jahr 1984. Auf der Welt gibt es drei Supermächte – Eurasien, Ozeanien und Ostasien – die sich (angeblich) in einem permanenten Krieg gegeneinander befinden. In Ozeanien ist eine dikatorische Partei an der Macht, die durch den nie öffentlich sichtbaren „Großen Bruder“ der Öffentlichkeit präsentiert wird. Die Hauptfigur Winston Smith gehört der unteren Mittelschicht Ozeaniens an und arbeitet als einfacher Angestellter im „Ministerium für Wahrheit“ in London. Seine Aufgabe ist es, alte Zeitungsberichte und Meldungen fortlaufend an die gerade vorherrschende Parteilinie anzupassen und damit konstant das vergangene Geschichtsbild zu verändern. Winston lehnt das totalitäre System ab. Ein weiteres Parteimitglied, Julia, wird zu seiner geliebten und Mitwisserin. Während Winston anfänglich mit Julia kleine, verbotene Akte der Rebellion genießt, versucht er im Verlaufe des Romans an die, von der Partei verfolgte, Untergrundbewegung heranzukommen.
Meine Meinung
Umfassende Überwachung. Manipulation der Medien. Dummhalten der Bevölkerung. – Siebzig Jahre hat Orwells ‚Mutter aller Dystopien‘ auf dem Buckel, doch würde man es nicht besser wissen, könnte man vermuten, dass er gerade jetzt erschienen sei. Natürlich sind all die Merkmale, die Orwell anprangert keine „Errungenschaften“ des Heute, sondern Mechanismen, die der Autor schon in den 1940ern beobachtete und auf eine düstere Zukunft übertrug. Was wirklich erschreckt, sind die technischen Möglichkeiten, die Orwell in seinen Roman skizziert. „Big Brother ist watching you“ – in Orwells Schilderung waren es noch öffentlich überwachte Plätze und der Teleschirm (Fernseher). Was würde Orwell wohl zu Internet, Smartphones und Tablets sagen, die nicht nur getarnt, sondern bewusst eine Kamera integriert haben? Von den zahllosen Daten, die wir bewusst und unbewusst preisgeben, ganz zu schweigen?
Die Stärke des Romans liegt darin, dass Orwell sehr vage bei der Darstellung seiner Welt bleibt und dem Leser viel Interpretationsspielraum lässt. Weder weiß der Leser ob der Krieg der Supermächte existiert, noch wie es um den großen Bruder und die Untergrundbewegung wirklich steht. Er ist und bleibt so unwissend wie Winston. Dieser Charakter ist durch und durch menschlich, mit all seinen Stärken und Schwächen. Nicht direkt sympathisch, aber dennoch identifiziert man sich als Leser schnell mit ihm. Man leidet, freut und hofft für Winston. Ein Gegenpol zu Winstons idealistischem und teils resigniertem Wesen, ist seine Geliebte Julia. Auch sie wirkt nicht gerade sympathisch, aber ihre Beweggründe sind genauso nachvollziehbar.
„1984“ lässt sich grob in drei Abschnitte untergliedern, wobei ich aus Gründen der Überraschung nur wenig verraten möchte. Nur so viel: Anfänglich begleiten wir Winston durch seinen normalen Alltag und anfänglichen, kleinen Akte persönlicher Rebellion gegen das System. Im zweiten Abschnitt kommt Julia hinzu und Winston will sich nicht mehr damit begnügen, das System hinzunehmen. Der dritte Abschnitt zeigt dann den Ausgang – und kein Ende hat mich mehr mitgenommen als die letzten Sätze von „1984“. Das Buch *konnte* nur auf diese Weise enden.
Fazit
Orwells düstere Zukunftsvision ist einer jener Romane, die einfach nur mitreißen. Einerseits ein Kind seiner Zeit, hat die Dystopie andererseits nur wenig an Aktualität eingebüßt. Abgesehen von einer leichten sprachlichen und inhaltlichen Patina, ist „1984“ auch siebzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung einer der spannendsten, beunruhigendsten und stärksten Science-Fiction-Romane.