Rezension „Niemandes Schlaf“ (Sven Haupt)

Rezension „Niemandes Schlaf“ (Sven Haupt)

»Ich kann Ihnen verraten, wie man eine neue Welt erschafft. Es bedarf erstaunlich vieler Blumen und einer gebrochenen Frau, die nicht schläft.« (S. 9)

Einige Jahrzehnte in der Zukunft: General Baker staunt nicht schlecht, als sein vermisster Schwarm elektrischer Hornissen in einem Kühlhaus eine gigantische Rose aus Frischfleisch modelliert. Während das Militär zusammen mit der KI-Koryphäe Bettina Calvin das seltsame Verhalten der Drohnen zu ergründen versucht, scheinen die Menschen auf der ganzen Welt, besonders in der gigantischen Hauptstadt, von Blumen besessen zu sein. Skulpturen, Memes, Graffitis – überall tauchen plötzlich Blumen auf.

Zur selben Zeit in der gigantischen Klinik des einflussreichen PharmaCorp-Konzerns: Die Bioakustik-Arbeitsgruppe von Professor Scholz, denen der versierte ITler Tuomas Lauri und Lou angehören, hat in den Toilettenkästen der Klinik fremdartige, quallenartige und blumenähnliche Wesen entdeckt. Eine junge Frau namens Eva, die scheinbar zufällig den Weg der Arbeitsgruppe kreuzt, scheint diese Blumenwesen irgendwie zu beeinflussen, denn in ihrer Anwesenheit formieren sie sich zu Gruppen.

Für beide Gruppierungen beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, denn die Wirkung der Blumen nimmt immer seltsamere und tiefergehende Veränderungen der Realität vor …

Bereits in vorangegangenen Romanen zeigte sich, dass Sven Haupt nicht viel von Genregrenzen oder dem Einhalten gängiger Konventionen hält. Die geneigte Leserschaft darf und soll selbstverständlich gerne unterhalten, aber gleichzeitig auch herausgefordert werden. Ein Vorgehen, das an Vertreter progressiver Musik erinnert: Haupt liest sich stellenweise so, wie sich ein Pink-Floyd-Song anhört: Ungewöhnlich, skurril, verschachtelt, tiefsinnig – und von betörender Schönheit.

Die Welt, die Haupt in »Niemandes Schlaf« zeichnet, ist trostlos und scheint das auf die Spitze getriebene Endergebnis von Entwicklungen zu sein, die wir in der Realität längst beobachten: Die Menschen leben entfremdet von der Natur und dem direkten Kontakt mit anderen auf engstem Raum in einer gigantischen Stadt; abgestumpft durch dauerhafte Berieselung von Staat und Konzernen, die jegliche Chance auf tiefgehende Veränderung oder Weiterentwicklung zugunsten der Aufrechterhaltung eines sich niemals ändernden Systems im Keim ersticken:

»Die Welt wird mit jedem Tag absonderlicher, fremdartiger, gefährlicher und vorhersagbarer«, sagte sie [Eva] irgendwann. »Vielleicht klammern die Menschen sich deswegen an immer neue und aufregendere Versionen von Wirklichkeit. Vielleicht gibt es ihnen die Illusion einer Kontrolle in einer Welt, die ihnen sonst nichts lässt. Denn solange sie mit immer neuen Wahrheiten beschäftigt sind, realisieren sie nicht, dass ihnen nicht einmal mehr ihre eigenen Gedanken gehören.« (S. 251)

Der Roman wird rückblickend von Lou erzählt, die abwechselnd die Handlung aus der Sicht der Bioakustik-Gruppe und des Militärs betrachtet. Dabei greift sie einerseits auf ihre eigenen Erinnerungen, andererseits auf zahllose Videoaufzeichnungen der vollständig überwachten Welt zurück. Lou, wie bereits im ersten Kapitel vermerkt wird, lebt nicht mehr. Wie sie starb und warum sie dennoch in der Lage in der Lage ist, von den Ereignissen zu berichten, offenbart sich am Ende.
Es ist auch dieser Schluss, der diese stellenweise phantastisch anmutende, skurrile und spirituell geprägte Geschichte in einer letztendlich denkbaren Realität verankert – und gleichzeitig von ihr entfernt. »Niemandes Schlaf« behauptet dabei nicht von sich, die Zukunft zu prophezeien, hat jedoch die Gegenwart, eine mögliche Zukunft und anregende Denkansätze tief in sich verwurzelt:

»Es ist nicht wichtig, dass eine Geschichte geglaubt wird. Viel wichtiger ist es, dass sie erzählt wird, denn im Universum wird nichts jemals vergessen. Eine erzählte Geschichte gewinnt an Realität, das ist der entscheidende Punkt.« (Seite 372)

Fazit: »Niemandes Schlaf« begeistert als fantasievoll und originell erzählter Roman, der Genregrenzen ignoriert und mit verstörender Extrapolation zum Nachdenken anregt. Trotz humorvoll geführter Dialoge, der berührend erzählten Romanze zwischen Lou und Eva und einem ausgereiften Erzählstil ist »Niemandes Schlaf« keine Lektüre für nebenher: Der Roman fordert von seinem Publikum nicht nur die Bereitschaft, literarische Komfortzonen hinter sich zu lassen, sondern sich auch gedanklich mit den einzelnen Stücken des dicht erzählten Mosaiks auseinanderzusetzen.

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