Rezension – „Aeronautica – Logbuch der Lüfte“

Rezension – „Aeronautica – Logbuch der Lüfte“

„Aeronautica – Logbuch der Lüfte“ ist eine Steampunk-Anthologie aus dem Art Skript Phantastik Verlag, herausgegeben von Jenny Wood und Grit Richter. Unter dem losen Motto „Abenteuer über dem Erdboden“ wurden 12 Kurzgeschichten gebündelt, die Liebhabern des Genres aber auch interessierten Neueinsteigern einen guten Flug bescheren.

Teil 1: Gesamteindruck und Kurzmeinung

„Aeronautica“ setzt auf Vielfalt. Genre: Steampunk, Thematik: Abenteuer über dem Erdboden. Das sind die Gemeinsamkeiten der 12 ansonsten sehr unterschiedlichen Geschichten. Vom klassischen Steampunk a’la Jules Verne über Abenteuer, Fantasy, Krimi, Grusel, neu interpretierten Mythen und sogar Anleihen von Lovecraft, ist alles dabei.

„Aeronautica“ hat natürlich das typische Anthologie-Problem: Bei dieser inhaltlichen und stilistischen Bandbreite kann nicht jede Geschichte gleichermaßen begeistern. Ein paar davon empfand ich nicht als direkt schlecht, hatte aber das Gefühl, dass mehr möglich gewesen wäre. Immerhin: Kein (!) Total-Ausfall.

Die 12 versammelten Geschichten haben von mir viermal 5 Sterne, viermal 4 Sterne und viermal 3 Sterne erhalten. Es braucht keinen dampfbetriebenen Rechenschieber um festzustellen, dass meine Wertung glatte vier Zahnräder ergibt. Dennoch habe ich mich für die Sammlung als Gesamtkunstwerk für die Höchtsnote entschieden.

Man merkt „Aeronautica“ an, dass es mit einer gelungenen Mischung aus Hingabe und Knowhow entstanden ist. Die handwerkliche Seite – Lektorat, Korrektorat, Satz – hat einwandfreie Arbeit geleistet. Darüberhinaus ist das gesamte Buch sehr stilvoll gestaltet worden. Von dem edlen Buchumschlag über Illustrationen bis hin zum kunstvollen Seitenlayout ist „Aeronautica“ eine Schönheit von Buch.

Fazit: Mich konnte nicht jede Geschichte packen, aber „Aeronautica“ ist eine gelungene Reise in die Welt des Steampunk und sowohl Neueinsteigern als auch Genre-Liebhabern nur zu empfehlen.

Teil 2: Die einzelnen Geschichten

„Die Wunder der Madame Duret“

von Marie H. Mittmann

Ava stürzte vor drei Jahren mitten über der Wüste ab und kämpft seitdem mehr schlecht als recht ums Überleben. Ein Luftschiff scheint die Rettung – wäre es nicht ebenfalls abgestürzt. Bei der Untersuchung des Wracks macht sie jedoch eine unerwartete Entdeckung …

Die Geschichte ist in vielerlei Hinsicht pures Lesevergnügen. Sie hat ein tolles Setting, keine Längen, gut gezeichnete Charaktere, abenteuerlicher Amelia-Earhart-Flair und eine originelle Idee mit gelungener Auflösung. Die Schreibe der Autorin meistert die Gratwanderung zwischen Schnörkellosigkeit und Abwechslungsreichtum und ist daher sehr gefällig. Mit wenigen, sprachlichen Pinselstrichen zeichnet sie einen tollen Kurzfilm fürs Kopfkino. Dennoch habe ich „nur“ 4 Sterne vergeben, denn die Geschichte hat für mich ein Problem: In der Hälfte gibt es einen ziemlich deutlichen Hinweis, wie sie ausgeht. Der Überraschungseffekt geht leider verloren. Das ist angesichts der guten Auflösung schade, da sie mit einer leichten strukturellen Änderung überraschender hätte kommen können. Dennoch: Eine lesenswerte Geschichte und ein gefälliger Einstieg in die Sammlung.

„Pina Parasol und das verschwundene Königreich“

von Tino Falke

Die Geschichte und seine Heldin ist bewusst überdreht und steckt voller Fantasie und skuriller Einfälle. Das Tino Falke – und das sollte man nicht punterschätzen (kein Schreibfehler) – das Spiel mit Worten beherrscht, zeigt sich v. a. in den Dialogen. Es war mir wichtig, das klarzustellen, denn andere Leser werden wohl genau das schätzen, was ich kritisiere. Die eigentliche Geschichte ist in Ordnung, gleichwohl sie im Plot eher durchschnittlich ist. Ich kann mit dem Stil einfach absolut nichts anfangen. Für mich ist das Ganze zu abgedreht, voller unnötiger Informationen und auch mit Sätzen gespickt, die für sich betrachtet amüsant sind, aber die Handlung bremsen. Daher vergebe ich drei Sterne.

„Gargantua“

von Sarah Stoffers

An Bord des Luftschiffes Gargantua, auf der Route Paris – Berlin, gerät die Zucker-Importeurin Luise Huber an zwielichtige Gestalten.

Wer sich nach meinen ersten beiden Rezis gefragt hat, wieso die gesamte Sammlung von mir die Höchstwertung erhält, der bekommt nun die Antwort darauf. „Garagantua“ von Sarah Stoffers, die dritte Geschichte der Anthologie, ist ein Juwel von Kurzgeschichte. Euer geschätzter Blogger findet nichts, aber auch gar nichts, zu motzen – und das ist bei ihm äußerst selten. Die Autorin schreibt einfach mitreißend elegante Sätze, die das Autoren-Herz neidgrün und das Leser-Herz schneller lagen lassen. Die Spannung bleibt über die knackig erzählten 16 Seiten erhalten und hält mehr als eine Überraschung bereit. Die Protagonistin hat man nach den ersten Zeilen ins Herz geschlossen und mit ihrer „Zuckermafia“ hat sie nicht nur faszinierende Gegenspieler (?), sondern auch gekonnt Gesellschaftskritik eingewoben.

„Im Herz des Sturms“

von Lena Richter

Die in die Jahre gekommene, berüchtigte Piratin Xhemin Sturmherz wird an Bord ihres Schiffes von dem Kopfgeldjäger Silander überrascht.

Nachdem die ersten drei Beiträge eher erdig waren – so erdig, wie es Steampunk eben zulässt – so hat die Geschichte von Lena Richter einen ordentlichen Fantasy Einschlag. Was „Im Herz des Sturms“ zu einem Lesevergnügen macht, ist die Idee der Flüsterschiffe, die einen Pakt mit dem Kapitän eingehen, die Protagonistin Xhemin und vor allem atemlose Spannung. Die Geschichte fesselt in einem Rutsch bis zum Schluss. Auch wenn Verlauf und Finale nun nicht sonderlich überraschen, vergebe ich für diesen Leserausch volle fünf Sterne.

„Elendstal“

von Magalia Volksmann

Isabella hat eines ihrer Beine verloren. Im Tausch gegen ein mechanisches Bein geht sie mit einem Hexenmeister den Pakt ein, ihm dafür ein Luftschiff zu bringen.

Die fünfte Geschichte der Sammlung zeigt deutlich, wie wichtig den Herausgeberinnen die Abwechslung innerhalb von „Aeronautica“ war. „Elendstal“ erinnert stilistisch an eine Schauermär, wenn auch aus der 1. Person erzählt. Mir hat besonders der Thüringer Lokalkolorit zugesagt, zumal die Gegend rund um den Brocken (Blocksberg) ja ohnehin sagenumwoben ist. Die Autorin hat ein Talent für bissige Dialoge und Atmosphäre, was die Geschichte zu einem Lesevergnügen macht. Der einzige Wermutstropfen: Hier wird zuviel Handlung auf zu wenig Seiten gepackt und etwas überhastet vorgegangen. Sicher, dadurch hat sie auch keine Längen, aber ich denke, etwas ausführlicher würde diese Geschichte als Novelle (noch) besser funktionieren. Ich vergebe vier Sterne.

„Kurs Nord-Nordzenit“

Von Paul Tobias Dahlmann

Das Luftschiff Siegesburg gerät in einen Nebel voller Geister.

Es ist eine der kürzesten Geschichten des Buches – und leider auch eine der langweiligsten. Wie es in der Autorenvita vermerkt wurde, spielt diese Geschichte vor demselben Hintergrund wie eine Novelle des Autors. Und so liest es sich auch: Eine ganz passabel geschriebene Szene, die Teil eines größeren Werks ist. Mit Kenntnis dieses Werkes hätte ich vielleicht anders über die Geschichte geurteilt, aber so kann ich nur festhalten, dass „Kurs Nord-Nordzenit“ isoliert für sich nicht funktioniert. Drei Sterne.

„Holt mir den Fliegenden Holländer runter“

von Markus Cremer

Rashida, die Tochter eines Piratenkapitäns, begibt sich im Alleingang auf den sagenumwobenen Fliegenden Holländer und lüftet dessen Geheimnis …

Während des Lesens musste ich oft an „Pirates of the Carribbean“ denken. Das lag nicht nur am Fliegenden Holländer, sondern vor allem daran, dass diese Geschichte einfach nur Spaß macht und in ihrer abenteuerlichen, cinematischen Erzählweise wie ein kleiner Kinofilm anmutet. Meinen Respekt an Markus Cremer, denn die Bildgewalt eines abenteuerlichen Blockbusters in Worte zu fassen, ohne dass es in einen Bericht ausartet, ist eine Kunst, die nicht jeder beherrscht. Der Autor hat sich die Legende vom Fliegenden Holländer zu eigen gemacht und gelungen in einem Steampunk-Abenteuer adaptiert. Dazu gesellt sich mit „Zuckerschnecke“ Rashida auch noch eine symphatische Protagonistin. Kurz und gut: Von mir gibt es fünf Sterne für eine der stärksten Geschichten der Sammlung.

„Am Ende der Welt“

von Manuel O. Bendrin

Die Besatzung eines norwegischen Luftschiffes untersucht am Nordpol das Wrack eines amerikanischen Prototyps. Ihre Nachforschungen fördern Geheimnisse zu Tage, die besser im ewigen Eis geblieben wären …

Gruseliges gab es schon in der Sammlung, aber diese Geschichte setzt, auch mit einer ordentlichen Portion Lovecraft, noch einen drauf. „Am Ende der Welt“ nutzt mit der isolierten Crew in unwirtlicher Einsamkeit ein klassisches Erzählmuster (remember „The Thing“), welches die richtige Stimmung für die straff erzählte Geschichte schafft. Ansonsten begeistert die Geschichte durch die Stärken, die mir bei dem Autor schon in anderen Publikationen positiv aufgefallen sind: Bissiger Humor und elegant formulierte Sätze, welche die Balance zwischen Schnörkel und Geradlinigkeit geradezu spielerisch meistern. Zum vierten und letzten Mal fünf Sterne.

„Der letzte Flug der Aristoteles“

von Yann Krehl

Das Luftschiff Beowulf hat sich in die Tiefen des Regenwalds begeben, um dem Verschwinden des legendären Entdecker-Luftschiffs Aristoteles nachzugehen.

Es ist keine schöne Rezension, also machen wir es kurz und schmerzhaft. Das Setting der verschollenen Expedition in unerforschten Gebieten ist geradezu klassisch und böte Raum für Spannung – die kommt in der ganzen Kurzgeschichte nicht auf. Nach einem stimmungsvollen Anfang wird in der ersten Hälfte der Kurzgeschichte nur nüchtern über den Flug berichtet, bis – Spoiler (?) – das Wrack gefunden wird. Und nach zwei Seiten, die so etwas wie Spannung aufkommen lassen, geht es so langweilig weiter wie zuvor. Die Figuren agieren schablonenhaft und das Ende ist nun auch nicht überraschend. Um auch etwas Nettes zu sagen: Die Schreibe von Yann Krehl ist gefällig, aber diese Geschichte ist strukturell und inhaltlich nicht einmal Durchschnitt – was in der ansonsten guten Anthologie doch überrascht.

„Finding Home“

von Laura Dümpelfeld

Das Luftschiff, indem Phineas mit seiner Tochter aus dem verseuchten und vom Krieg gebeutelten England flieht, stürzt kurz vor Paris ab und trennt die kleine Familie …

Meine Meinung: „Finding home“ ist eine sehr subjektive Angelegenheit. Es ist strenggenommen keine Kurzgeschichte, sondern liest sich eher wie der Anfang eines Romans. Die üblichen Strukturen einer KG ignorierend (überraschende Wendung? Konflikt?), wird dieses „Kapitel“ / diese „Szene“ jedoch von einem starken Motiv getragen, das am Ende auch seinen deutlichen Niederschlag findet. Das Ganze ist straff erzählt und zudem sprachlich sehr ansprechend. Geschmackssache also – und mir hat es gemundet. Vier Sterne.

„Der weiße Teufel“

von Markus Heitkamp

Der Mäuserich Mausmael sucht eine sichere Passage nach Amerika und gerät an einen Luftschiff-Kapitän, die Ratte Rathab. Jener sinnt jedoch nach Rache über eine ganz bestimmte Möwe, die ihn verkrüppelt hat und für ihn das pure Böse darstellt …

Kommt einem irgendwie bekannt vor? Klar – und Markus Heitkamp macht gar keinen Hehl daraus, „frei nach Moby Dick“ zu erzählen. Das ist auch mein Problem mit der Geschichte. Für sich betrachtet ist sie gut, sprachlich ein Gaumenschmaus und das charmante Setting einer Steampunk-Nagerwelt ist ansprechend – aber es ist eben eine Adaption von „Moby Dick“, welche abgesehen von der Setting-Kosmetik keine wirkliche Duftmarke setzt und die Tiefe von Melvilles Literaturklassiker bei weitem nicht erreicht. Schade. Absolut (!) isoliert von „Moby Dick“ betrachtet vier Sterne.

„Über den Wolken“

von Corinna Schattauer

Bevor es zur eigentlichen Rezi kommt: Nach dramatischen, gruseligen, mystischen und abenteuerlichen Geschichten endet „Aeronautica“ mit „Über den Wolken“ auf eine leichtfüßige Note, die einen angenehm aus dem gesamten Flug mit dem Luftschiff „Aeronautica“ entlässt.

Zwei Diebinnen planen den großen Coup.

Die Geschichte in einem Wort: charmant. Die Autorin hat eine amüsante Geschichte geschrieben, die weniger durch einen spektakulären Plot, als vielmehr durch zwei sympathische Protagonistinnen, eine raffinierte Wendung und einen unglaublich guten Schreibstil punktet. Vier Sterne.

Teil 3: Buchdaten

Klappentext

Die Menschen erobern die Lüfte – ob mit Zeppelin, Heißluftballon oder dampfbetriebenen Maschinerien. Zwischen den Wolken und hinter dem Horizont warten neu Abenteuer, Intrigen, magische Wesen, sowie kleine und große Helden.

12 Autorinnen und Autoren nehmen uns mit auf ihren Reisen über die Kontinente und in fremde Welten. Dieses Logbuch hat Abstürze überstanden, Piratenangriffe, Kriege und ist ebenso ein Zeuge für Freundschaft und Liebe.

Erleben Sie den Traum vom Fliegen auf eine ganz neue Art.

Mit Beiträgen von: Lena Richter, Marie H. Mittmann, Manuel O. Bendrin, Magali Volkmann, Laura Dümpelfeld, Sarah Stoffers, Markus Cremer, Paul Tobias Dahlmann, Tino Falke, Corinna Schattauer, Markus Heitkamp und Yann Krehl

Daten

erschienen im Art Skript Phantastik Verlag

ISBN: 978-3-94504533-6

Seitenzahl Druckausgabe: 231

Preis Taschenbuch: 13,80 €

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