Rezension „Neongrau“ (Aiki Mira)

Rezension „Neongrau“ (Aiki Mira)

„Was willst du hören? Eure Generation erscheint mir so fremd, dass ich nicht einmal glaube, du und ich sprechen noch die gleiche Sprache. Wir tun nur so. In Wirklichkeit gehört ihr jungen Menschen bereits zu einer anderen Spezies. Daher haben wir uns auch nichts mehr zu sagen.“

Die Rezension, so destilliert es Wikipedia, ist eine Form der Kritik, die ein bestimmtes Werk vorstellt und anhand sach- und fachgemäßer Normen bewertet. 

Bei dem Großteil belletristischer Werke fällt mir das leicht. Ich betrachte handwerkliche Aspekte – Motive und deren Umsetzung, Aufbau und Spannungsbogen, sprachliche Gestaltung, Zeichnung der Charaktere etc. – und versuche hinsichtlich Originalität, Gesamtgüte und letztendlich subjektivem Gefallen eine wertende, hoffentlich nachvollziehbare Einordnung.

Es gibt jedoch Werke, die in keine Schublade passen wollen und streckenweise experimentell sind. Sind diese Werke dann auch noch dicht gewoben und vermeiden es, der Leserschaft auf dem Silbertablett zu servieren, wird es knifflig.

Ein solches Werk ist „Neongrau“.

Der Roman spielt in einem fiktiven Hamburg des Jahres 2112. Das „Duell der Legenden“, ein populäres e-Sports-Event, steht an. Das einheimische Glam-Gamer-Geschwisterpaar Rahmani sind die schillernden Helden einer ganzen Generation. Go „Stuntboi“ Kazumi, ein Teenager der Unterschicht, erhält die Gelegenheit, im Austragungsort – dem „Schwimmenden Stadion“ – zu arbeiten. Dort wird sie in die Konflikte der Geschwister hineingezogen, hinter deren Influencer-Fassade es alles andere als glamourös zugeht. Als wäre das noch nicht genug, erschüttert ein Bombenattentat auf das Event und offenbart eine dunkle Machenschaft …

Rollen wir das Ganze einmal auf: Die Beschreibung lässt einen thrillerartigen Spannungsroman in einem von Korruption zerfressenen Entertainment-Sektor vermuten – eben in ein futuristisches Gameing-Setting eingebettet (vergl. „Ready Player One“). Rein unter diesem Aspekt betrachtet gelang Aiki Mira ein solider, gut strukturierter Roman, der im Spannungsbereich allerdings etwas zu gleichförmig verläuft und sich in einigen Passagen ein wenig in Redundanzen verliert.

Ich vermute jedoch, dass es Aiki Mira gar nicht darum ging, einen möglichst spannungsgeladenen Roman zu erzählen. Das Bombenattentat und die Spiele scheinen nur das Handlungskorsett zu bilden, ein ganzes Ensemble an Figuren, deren Wege sich unweigerlich kreuzen, für einen kurzen Zeitraum zu begleiten. Gewissermaßen ist „Neongrau“ eine Future-Hamburg-Sightseeing-Tour mit einem Blick auf Einzelschicksale.

Der Erzählstil ist auktorial. Durch diese distanzierte Betrachtung gelingt es Aiki Mira, der verhältnismäßig großen Anzahl Charakteren gerecht zu werden. Zwar liegt der Fokus auf Go ‚Stuntboi‘ Kazumi, dessen/deren Identitätssuche als genderfluide Person ‚ein‘ Thema des Romans darstellt, doch auch weitere Charaktere wie Gos Eltern Tayo und Ren, die Game-Celebrities Rahmani und die geheimnisvolle ELLL werden ausführlich in ihren Strängen begleitet. Trotz der Distanz im Erzählstil gelingt Aiki Mira durch eine sorgsam ausbalancierte Mischung aus Beschreibung, Gedanken, Empfindungen sowie getauschten TXT-Nachrichten – eine Besonderheit der nahezu permanent online aktiven Bevölkerung – die Charaktere der Leserschaft nahe zu bringen. Auf eine Wertung wird verzichtet. Aiki Mira mag unser Guide auf dieser Sightseeing-Tour sein, doch wird nur zu den Orten und Charakteren geführt.

Die sprachliche Gestaltung ist erstklassig. Ich kann nur mutmaßen, dass Aiki Mira einen Satz dreimal schreibt, ihn dann viermal ändert und im Anschluss fünfmal mit jeweils feineren Feilen schleift. Kein Satz scheint überflüssig, kein Wort scheint Zufall zu sein.

Beachtenswert ist die Zeichnung, vor allem aber die literarische Umsetzung des Jahres 2112. Aiki Mira hat sich nicht damit begnügt, ein paar Randdaten und technische Gadgets einzuweben, sondern wirft ihre Leserschaft ohne große Erklärungen in ihre spekulative Zukunft. So wenig, wie Schreibende in Gegenwartsromanen darlegen, was eine Kreditkarte ist oder was handelsübliche Smartphones können, so beiläufig zeichnet Aiki Mira viele kleine Details. Diese Selbstverständlichkeit der Gegebenheiten zieht sich durch das komplette Werk: Ökonomie, Ökölogie, Gesellschaftliches, Alltagsleben. Die schlüssig überlegte und konsequent genutzte Alltagssprache unterstreicht dies eindrücklich. Knapp eingewobene Erläuterungen gibt es nur da, wo Aiki Mira sie wohl für unumgänglich hielt, um das ohnehin geforderte Publikum nicht zu sehr zu verwirren. Bemerkenswerterweise wird die Gesamtbetrachtung der Welt außerhalb Hamburgs schlüssig, aber vage gehalten, und fordert von den Lesenden auf, Leerstellen auszufüllen. (Aber auch hier: Welche Schreibenden würden „Geschichte und Lage der Nation im globalen Zusammenhang“ ausformulieren, ehe sie sich dem Regionalkrimi widmen?)

„Neongrau“ behauptet nicht nur, von der Zukunft zu erzählen, sondern tut es auch. Das ist nicht mehr unsere Welt. Auch nicht die Welt unserer Kinder oder Enkel. Es ist die Welt unserer Ur- und Ur-Ur-Enkel. Da Aiki Mira meines Wissens nach nicht mit prophetischen Gaben gesegnet ist, ist das beschriebene 2115 natürlich Spekulation. Doch wie Andreas Eschbach einst treffend bemerkte, kann Science-Fiction keinen Anspruch auf Vorhersehung hegen, sondern ist ein Kommentar aus der Gegenwart.

„Neongrau“ schneidet viele aktuelle Themen an, von denen jedoch keines ein besonders Gewicht erhält. Mir scheint es, als wollte Aiki Mira darlegen, wie sehr alles zusammenhängt: Die Problematik einer Gesellschaft, die stärker denn je vernetzt ist, jedoch immer größere Distanz zueinander aufbaut; die Wahrheit hinter glamourösen Trugbildern; die vollkommene Desillusion über die Zukunft einer sterbenden Welt; die Suche nach Identität.

Das ist es, was dieses kalte, distanzierte Werk mit einer uns fremdartig erscheinenden Menschheit so faszinierend macht und weit über die gängige Genre-Literatur herausragen lässt: Keine oberflächlichen Betrachtungen, sondern die aus sorgsamer Beobachtung der Gegenwart resultierenden, tiefgehenden Überlegungen, wo „wir“ – die Welt, Deutschland, die Gesellschaft, das Individuum – in einem Jahrhundert stehen könnten. Unweigerlich stimmt das Werk nachdenklich und stürzt in ein Wechselbad aus Faszination, etwas Hoffnung, Bedauern und Abscheu.

Fazit: Aiki Mira gelang mit „Neongrau“ ein Werk, das ich zweigeteilt betrachte. Als „Unterhaltung“ ist der Roman im guten Mittelfeld einzuordnen. Der Hauptstrang ist schlüssig strukturiert, baut mit einem gut gezeichneten und breit aufgestellten Ensemble Erwartungen auf, verläuft als Spannungsroman aber etwas gleichförmig. Das Werk punktet hingegen als intensiv geschriebene, stilistisch und sprachlich erstklassige, charaktergetriebene Geschichte. Besonders gelungen ist die Gestaltung des Jahres 2112, die in Gesamtwirkung verschiedener Aspekte eine vorstellbare Zukunft entwirft, die in unaufdringlicher Detailgenauigkeit ihresgleichen sucht.

„Neongrau“ ist sicher keine Strandlektüre, denn das Werk fordert zur ungeteilten Aufmerksamkeit und aktiven Auseinandersetzung mit dem Gelesenen auf. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, wird mit einem außergewöhnlichen Werk belohnt, das nach meiner Auffassung ein beeindruckendes Stück Literatur darstellt.


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