Rezension „Der Tod kommt auf Zahnrädern“ (Hrsg. Janika Rehak, Yvonne Tunnat)

Rezension „Der Tod kommt auf Zahnrädern“ (Hrsg. Janika Rehak, Yvonne Tunnat)

„Der Tod kommt auf Zahnrädern“ ist eine Steampunk-Anthologie aus dem Amrún Verlag, herausgegeben von Janika Rehak und Yvonne Tunnat. Die Sammlung hat kein übergeordnetes Thema, wodurch in den zusammengestellten 15 Geschichten viel Abwechslung geboten und die Vielfalt des dampfenden Phantastikgenre betont wird.

Die Baukasten-Sätze einer jeden Anthologie-Rezension – „Nicht jede Story wird den persönlichen Geschmack treffen“, „Für jeden Geschmack ist etwas dabei“ – möchte ich mir gerne sparen, auch wenn sie (nicht überraschend) natürlich zutreffen.

Bei der handwerklichen Güte gibt es wenig zu beanstanden. In einzelnen Fällen wäre sprachlich und strukturell mehr drin gewesen, doch die qualitativen Schwankungen pendeln in der Sammlung lediglich zwischen solide, gut und sehr gut.

Wie bereits erwähnt, besticht die Zusammenstellung durch Abwechslung. Es gibt actionreiche Abenteuergeschichten, Fantastisches, Märchenhaftes, Kriminalistisches, Humorvolles, aber auch leisere und nachdenklichere Geschichten. Zwar wurde mit Vorliebe auf ein quasi-viktorianisches England zurückgegriffen, doch manche Autor:innen zeigen auch andere Teile der Welt, halten das Setting im Hintergrund oder waren kreativ beim Erschaffen des geschichtlichen Hintergrunds. 

Unterm Strich: Vier Geschichten haben mir sehr gut gefallen, drei fand ich überdurchschnittlich, sechs boten solide Unterhaltung und lediglich zwei Beiträge konnten mich nicht begeistern. Dieser Schnitt ist mehr als ordentlich und für eine Anthologie ausgesprochen selten.

Die Stories im Einzelnen

„My Happiness“ von Angelika Bronx dreht sich um eine bekannte Persönlichkeit, die dem Ruhm der Gegenwart mit einer Reise in die Vergangenheit entfliehen möchte. Solide Pointe, schöne Verweise auf H. G. Wells „Die Zeitmaschine“ und eine nicht enden wollende, popkulturelle Verschwörungstheorie. Nett, mehr aber leider nicht.

„Damenopfer“ von Lina Thiede spielt zu Beginn eines fiktiven viktorianischen Zeitalters, in welchem ein Kampf um den britischen Thron entbrannt ist. Die Zeitungen kommentieren die rivalisierenden Kämpfe mit Schach-Metaphern. Originell und spannend, ein passender Schluss. Einziges Manko: Diese Geschichte könnte eine Novelle, wenn nicht gar einen Roman tragen, und kann im Rahmen einer Kurzgeschichte nur bedingt dieses Potential nutzen.

„Braunkreuz“ von Michael Schmidt dreht sich um den Einbruch einer Widerstandsgruppe in eine Chemiefabrik, um zu verhindern, dass eine gefährliche Substanz in militärischen Konflikten zum Einsatz kommt. Schmidt erzählt gefällig, seine Alternativ-Welt ist sorgsam, aber mit bemerkenswert wenigen Pinselstrichen gut gezeichnet. Die Geschichte an sich verläuft für meinen Geschmack etwas zu geradlinig und überraschungsarm, bietet jedoch solide Unterhaltung.

„Tempus Fugit“ von Tessa Maelle ist die Geschichte der Sammlung, mit der ich am Wenigsten anfangen kann. Die Idee einer dunklen „Heldin“, die dort wirkt, wo das Gesetz versagt (hier ist es Vergeltung für Unrecht an Frauen), ist nicht erst seit der Marvel/DC-Flut wenig originell. Das „Alles hat seinen Preis“-/Wicca-Prinzip für die Verwendung von Magie ist ebenfalls ausgelutscht, die Charaktere sind flach gezeichnet und das Motiv der Selbstjustiz wurde unreflektiert behandelt. Um etwas Nettes zu sagen: Rein handwerklich ist die Geschichte in Ordnung.

Carolin Gmyreks „Die Jagd nach Dampf“ ist die bislang originellste Geschichte der Sammlung. Der Anfang könnte aus einem von Tim Burtons Düster-Märchenfilmen stammen – und das meine ich als Kompliment. Mir gefällt, dass der mechanische Junge Maximilian nur vage gezeichnet wird und somit Raum für die eigene Fantasie lässt. Die Geschichte um ihn entfaltet sich mit einem erklärenden und stilistisch gekonntem Perspektivenwechsel gut, und das Ende ist passend. Hat mir gefallen. 

„Die Zukunft“ von Aiki Mira. Das erste, große Highlight der Sammlung. Abgesehen von leichter Setting-Kosmetik, wurde Steampunk auf ein einzelnes Element zurückgefahren, gleichzeitig sorgsame Recherche offenbart. Somit wirkt die Geschichte von zwei Männern und ihre Verehrung gegenüber einer unerreichbaren Frau mehr wie ein Stück Literatur aus vergangenen Tagen, was auch durch die eleganten Formulierungen unterstrichen wird. Aiki Mira stellt ein weiteres Mal unter Beweis, welch guten Blick they für das menschliche Wesen hat – und wie gut darüber geschrieben werden kann.

„Von Käfern, Schaben und anderem Ungeziefer“ von Galax Acheronian handelt von zwei Jungen auf einem Luftschiff, dem Heizer Johann und dem Pagen Cole, die außerhalb ihrer Schichten seit geraumer Zeit die betuchten Gäste finanziell etwas erleichtern. Das letzte Diebesgut ist jedoch nicht so unspektakulär, wie es zunächst den Anschein hatte. – Ein weiteres Highlight der Sammlung. Galax Acheronian wob eine spannende Geschichte, die an ihrem Ende zwar ein bisschen *gewollt* zurechtbiegt, aber mich mit einem sympathischen Protagonisten und einem temporeichen, fantasievoll erzählten Abenteuer begeistert hat.

„Mechanical Circus“ von Co-Herausgeberin Janika Rehak erzählt mit dem jungen Elliot und seinem mechanischen Spielzeug-Zirkus den Übergang zwischen Kindheit und Jugend, wobei der frühe Verlust der Mutter und ein distanziertes Verhältnis zum bestimmenden Vater thematisiert werden. Es ist eine Geschichte, die darüber nachdenken lässt, wie fragil die Seele ist und wie leicht sie Schaden nehmen kann. Das Ende mag auf den ersten Blick sehr eindeutig sein, erlaubt jedoch „hinter der Handlung“ auch andere Interpretationen – wie dieser Text ohnehin viel von Ungesagtem lebt, wie sich insbesondere beim zweiten Lesen offenbart.

„Hayes‘ Töchter und Söhne“ von Thorsten Küper gehört zu den längeren Beiträgen der Sammlung, braucht jedoch auch ein „mehr“ an Raum. In einer spannenden, mitreißend geschriebenen und handwerklich einwandfreien Abenteuer-Geschichte, thematisiert der Autor die Ausbeutung von Naturvölkern. Das Ganze hätte mit seinem Western-Einschlag auch prima nur in den fiktiven USA des 19. Jahrhunderts funktioniert, doch die Verbindung zu einem steampunkigen Deutschland (Wuppertal) ist ein besonders origineller Bonus.

Bei „Lautes Sterben“ von Frederic Brake hatte ich recht schnell das Gefühl, eigentlich eine Episode einer Serie oder ein Romanheft zu lesen. Dafür spricht das dichte Erzähluniversum, aber auch manche Dialoge, die es für *diese* Geschichte nicht gebraucht hätte. Die Story, die Brake für sein Ermittlergespann Graf Georg von Frankenberg und Peter Lannister ersann, ist der dunklen Phantastik zuzuordnen und im Rahmen einer Kurzgeschichte solide. Da diese Beschreibung eher nüchtern klingt, sei angemerkt, dass ich neugierig geworden bin und gerne mehr von den beiden lesen würde – und Brake *verdammt gut* erzählen kann.

„Zero El Anarcho“ von Uwe Post könnte weniger als humorvolle Steampunk-Geschichte, sondern vielmehr als spöttische Persiflage auf das Genre aufgefasst werden: Die Handlung dreht sich um einen Herrn, der den scheinbaren Tod eines aktivistischen „Zeig-o-Fon“-Influencers mitbekommt. Originell, knackig kurz, einige schöne Einfälle, handwerklich in Ordnung und ja, witzig. Ich hätte mir nur gewünscht, dass das Fips-Asmussen-Zoten-Fließband im Hirn des Autors ein *bisschen* weniger unter Dampf gestanden hätte und einige flachere Gags aussortiert worden wären.

Mit „Morsche Haut“ gibt sich die zweite Herausgeberin, Yvonne Tunnat, die Ehre. Ich möchte nicht zu sehr auf den Inhalt eingehen, denn einerseits passiert nicht viel und andererseits scheinen „Kammerspiele“, bei denen sich die Geschichte „unter dem Text“ abspielt, die große Stärke der Autorin zu sein. Nur soviel: Das Cyborg-Motiv wird originell in ein Steampunk-Gewand gekleidet und die Geschichte lässt ob ihrer menschlichen Komponente alles andere als kalt. Ein Kleinod.

„Sehnsucht“ von Jol Rosenberg thematisiert Identität bzw. Existieren aus der Perspektive eines mechanischen Soldaten. Es ist weniger die Handlung, die begeistert, als vielmehr die gefühlvoll geschriebene Ausbildung der Persönlichkeit. Schöne Formulierungen sowie lebendig geschriebene Szenen tragen zum gelungenen Gesamtergebnis einer wunderbar menschelnden Geschichte bei.

Als Krimi-Fan holt mich Oliver Bayer mit „Die Nacht des toten Gärtners“ vollkommen ab. Der Anfang mit der Prostituierten Rosina, die annimmt, jemanden versehentlich ermordet zu haben, ist ein gelungener Einstieg in die vergnüglich erzählte Geschichte. Ich kann gar nicht genug betonten, wie sehr ich es als Leser schätze, wenn ich bis zum Schluss rätsle, im Dunklen tappe – und dann eine befriedigende Auflösung lesen darf. Hat mir sehr gefallen.

Bei dem Titel von Uwe Hermanns abschließenden, längeren Beitrag „Wir von der kaiserlichen Reinigungskolonne“ hatte ich zunächst die Vermutung, ebenfalls eine humorvolle Geschichte vorgesetzt zu bekommen. Stattdessen zieht der Autor mit der Geschichte um seinen Reinigungstrupp – Beseitigung von Dampfrückständen – eine Parallele zu realweltlichen Umweltproblemen. Die Geschichte beginnt knackig mit dem Auffinden einer Leiche und weiß über ihre knapp 50 Seiten spannend zu unterhalten. Hermann hat das Ambiente stimmig und detailliert gezeichnet, ohne je von der Handlung abzulenken. Ebenso wie bei Frederic Brake möchte ich die gelungene Schreibe des Autors besonders hervorheben.

Zum Schluss möchte ich dem Coverkünstler Christian Günther ein Lob aussprechen. Das Titelbild – mit Bezug auf die Geschichte „Damenopfer“ – ist ästhetisch ansprechend und hebt sich in der gesamten Gestaltung positiv vom einfallslosen Stockphoto-Standardfont-Collagenbrei vieler anderer Cover ab.

Fazit: Eine tolle Anthologie, die mit inhaltlicher und tonaler Abwechslung, einigen herausragenden Geschichten und fast durchgängig mit guter Unterhaltung begeistert. Einige der Beiträge gehören für mich zu den stärksten Stories des deutschsprachigen Kurzgeschichten-Jahrgangs 2022.

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