Rezension „Gothic Steam“ (Hrsg. Detlef Klewer)
Dreadpunk. Wer bei diesem Begriff fragend eine Augenbraue hebt oder vor dem geistigen Auge eine Punkband mit verfilzten Haaren abrocken sieht, sei darüber aufgeklärt, dass es sich um eine Crossover-Gattung der phantastischen Literatur handelt. Der Titel der Sammlung – „Gothic Steam“ – verrät der geneigten Leserschaft schon eher, was sie erwartet: Viktorianische Schauergeschichten, die im Setting der dampfbetriebenen Alternativwelt-Science-Fiction a’la Jules Vernes umgesetzt wurden.
Herausgeber Detlef Klewer hat bei der Zusammenstellung ein gutes Händchen bewiesen. Die Sammlung ist als Gesamtkunstwerk innerhalb des gesteckten Rahmens sehr stimmig, während die einzelnen Geschichten für inhaltliche und erzählerische Abwechslung sorgen. Einige Autor:innen verneigten sich vor Literaturklassikern („Jane Eyre“, „Das Bildnis des Dorian Gray“, „Der seltsame Fall des Dr Jekyll und des Mr Hyde“), gewannen bekannten Geschehnissen und urbanen Legenden neue Facetten ab (die weiße Frau, ruhelose Seelen, die Whitechapel-Morde) oder nutzten das Genre-Crossover für originelle, teils ungewöhnliche Einfälle. Zwar schwankt die Qualität der Beiträge, dies aber in einem verträglichen Maße.
Eine Geschichte gefiel mir gar nicht, eine fand mäßig, das Gros solide bis gut, und zwei – „Erdwärts“ und „In nebligen Gassen erwacht“ – herausragend. Keine schlechte Quote.
Auch wenn mich nicht jede Geschichte begeistern konnte, möchte ich versuchen, zu jedem Beitrag ein paar Worte zu verlieren:
Holger Göttmann greift mit seiner Geschichte „Die Gouvernannte“ einen der bekanntesten, britischen Literaturklassiker auf, indem der verschrobene Mr Rochester ein Kindermädchen für seine mechanische Tochter einstellt. Die Geschichte profitiert davon, Elemente von „Jane Eyre“ originell zu adaptieren, jedoch nicht plump im Steampunk-Gewand nachzuerzählen. Die Auflösung ist gut gelungen.
Anna Eichenbachs „In nebligen Gassen erwacht“ reduziert die Steampunk-Elemente auf kleine Sprenkel und erzählt eine Gruselgeschichte , wie sie inhaltlich klassischer kaum sein könnte: Grace, mittlerweile Gouvernannte, wuchs in einem Waisenhaus auf, in welchem ein Junge auf mysteriöse Weise verschwand. Das geisterhafte Wesen jener Tage scheint zurückgekehrt – Eindringlich und spannend erzählt, atmosphärisch dicht und mit einem subtil vorbereiteten, überraschenden Schluss.
Florian Krenns Beitrag „Jane Kyle und der Ripper“ führt nach Österreich und schlägt inhaltlich sowohl zu den Whitechapel-Morden als auch H. P. Lovecraft die Brücke. Wie auch bei dem Einstieg von Holger Göttmann ist Kennern damit eine Ahnung gegeben, wohin sich die Geschichte entwickeln wird, hält jedoch Überraschungen bereit. Im Gegensatz zu den ersten beiden und manch nachfolgendem Beitrag der Sammlung geht es hier eine Spur härter zur Sache.
„Kesselsdreck“ von Cendriya S. legt von Beginn an ein hohes Erzähltempo vor, welches bis zum Schluss gehalten wird. Die Geschichte um einen „telegraph boy“ (geniale Wortschöpfung) in einem London, dass von einem Serienmörder, der im Gegensatz zum Ripper nicht nur an der holden Weiblichkeit interessiert ist, heimgesucht wird, ist spannend und eindringlich erzählt.
M. W. Ludwigs „Das Bildnis der Gann Li-Penn“ ist ein „Mixed Bag“. Der Autor kann erzählen: Sprachliche Gestaltung, Humor, Spannung, Atmosphäre, gelungene Anspielungen auf Geschehnisse und Literatur des 19. Jahrhunderts – das, was seine Romane um den Earl von Gaudibert und seiner Gemahlin Gann Li Penn auszeichnet, gilt auch hier. Die Stärke seiner Geschichte ist gleichzeitig ihr Problem: Der Bezug auf „Das Bildnis des Dorian Gray“. Zwar wartet diese Hommage zum Schluss mit einer netten Anspielung auf, doch Verlauf und Ausgang sind angesichts von Oscar Wildes‘ Dauerbrenner leider sehr vorhersehbar.
Auch „Das Geheimnis des Conte“ von Isabell Hemmrich lässt mich zwiespältig zurück. Erzählerisch absolut gelungen, bietet die Geschichte um einen Vampir, der einen Wissenschaftler für die Lösung eines Problems kommen lässt, etwas wenig und eine eher flache Spannungskurve. Die grundsätzliche Idee ist jedoch ansprechend.
„Vom Stein der Unsterblichkeit“ von A. L. Norgard handelt von dem jungen Kanzlei-Angestellten John Patrick Henley, der zu einem französischen Erfinder beauftragt wird, um ein Patent in die Wege zu leiten. Während des Flugs wird eine Mitarbeiterin des Luftschiffes ermordet und Henley als Verdächtiger nicht ausgeschlossen. Während er sich auf das Geheiß der Polizei zur Verfügung halten muss und sein Treffen vorbereitet, bemerkt er eine seltsame Wandlung an sich. – Die Geschichte ist sprachlich etwas zu gewollt altmodisch gestaltet, weiß aber bis zum Schluss zu fesseln, da nicht klar ist, wohin sie steuert. Die Auflösung ist stimmig.
„Pathologische Hingabe“ (Ute Zembsch) erzählt von der Leichenbeschauerin Catlyn, die einer mysteriösen Todesursache auf der Spur ist. Die „mad scientist“-Story ist gut gestrickt, wird für mein Empfinden jedoch etwas schräg.
Julian Gräml erzählt in „Erdwärts“ die Geschichte eines Kindermädchens, deren Tochter durch einen Aufzug im Herrenhaus entführt wurde. Die Geschichte begeistert mit viel Fantasie, beklemmender Atmosphäre, gelungenen Wendungen und stetig steigernder Spannung.
„Dort, wo es dunkel wird“ von Stephanie Richter ist eine Schauermär, die lose Motive von „Frankenstein“ und „Pinocchio“ aufgreift. Die junge Eleanor wuchs als Halbwaise auf und weiß nichts über ihre Mutter. Da sich der Vater und die Hausdame schweigsam geben, forscht sie auf eigene Faust und entdeckt ein düsteres Geheimnis. Rein inhaltlich ein bisschen zu sehr im Fahrwasser bekannter Werke, weiß die gefällig erzählte Geschichte mit dem Ausklang und Sprenkel wie dem Kind-Geist Jimmy zu überzeugen.
„Archibald Leach und der Schrecken der See“ (Markus Cremer) ist eine Geschichte, über die ich am liebsten gar nichts schreiben würde. Nicht, weil sie schlecht wäre. Markus Cremer hat einen sehr gefälligen, humorvollen Stil und einige tolle Einfälle. Aber die Geschichte selbst … es liest sich für mich wie eine herausgelöste Szene aus einem größeren Werk: Archibald Leach und Sarah fliehen in einem U-Boot vor Kiemenmenschen. That‘s it. Trotz der Penny-dreadful-Ausrichtung ist mir eine reine handlungsorientierte Story zu sehr „Groschenroman“.
In „Sturm über Goslar“ von Nele Sickel sammelt eine Luftschiff-Kapitänin bei stürmischem Flug eine wortkarge Frau ein, die sich scheinbar auf einem Dach ausgesperrt hatte. Auch wenn erahnt werden kann, worauf es hinausläuft, bleibt die (beinahe) in Echtzeit erzählte Geschichte bis zum Schluss spannend.
Zum Schluss gibt sich Herausgeber Detlef Klewer mit „Tirn Aill“ die Ehre – und vermengt eine Fülle an Bekanntem (erneut Dorian Gray, Inspektor Abberline, „die andere Welt“) recht originell. Die gefällige Schreibe Klewers, die sich durch gut gesetzten, schwarzen Humor auszeichnet, trägt zum Gelingen bei.
Fazit: Eine gelungene, abwechslungsreiche Sammlung an Gruselgeschichten, die sich vor den viktorianischen Schauergeschichten mit einer kleidsamen Steampunk-Hommage verneigt.